Landessozialgericht Berlin-Brandenburg, Urteil vom 29.06.2022 – L 28 BA 23/19 – Sozialversicherungspflicht eines „Ein-Mann-Franchisenehmers“ (Kurierfahrer)

I.    Sachverhalt (vereinfacht)

  1. Der Kläger zu 1. schloss mit der Klägerin zu 2. ein als „Anschlussvertrag“ bezeichnetes Vertragswerk, das u. a. franchisetypische Merkmale enthielt. Hiernach sollte der Kläger Kurier- und Transportleistungen erbringen. Teil des Vertragswerkes war ein „Handbuch“ mit organisatorischen Tipps und Arbeitsanleitungen.
  1. Die Aufträge erhielt der Kläger zu 1. von der Klägerin zu 2. über Funk. Die Klägerin zu 2. agierte dabei nach eigenen Angaben als eine Vermittlungszentrale, die die Aufträge der Kunden lediglich an die Kurierfahrer weiterleite. Die Kurierfahrer können die Aufträge über das zu nutzende Funksystem verbindlich annehmen. Die Vergütung der Kurierfahrer richtete sich nach einer von der Klägerin zu 2. festgelegten Entgelttabelle. Für die Klägerin zu 2. waren im streitge­genständlichen Raum ca. 90 Kurierfahrer tätig. Die Klägerin zu 2. sah alle Kurierfahrer als selbstständig an.
  1. Nach Beantragung des Gründerzuschusses forderte das Job-Center den Kläger zu 1. auf, bei der Beklagten ein Statusfeststellungsverfahren einzuleiten. Daraufhin beantragte der Kläger zu 1. bei der Beklagten die Feststellung, dass keine sozialversicherungsrechtliche Beschäftigung bei der Klägerin zu 2. vorliege.
  1. Dem folgte die beklagte Deutsche Rentenversicherung Bund nicht. Sie stellte fest, dass in der Tätigkeit des Klägers zu 1. für die Klägerin zu 2. Versicherungspflicht in der Kranken-, Pflege- und Rentenversicherung bestehe. Gegen diesen Bescheid erhoben die Kläger jeweils Widerspruch. Die Beklagte wies die Widersprüche jeweils zurück.
  1. Sowohl Kläger zu 1. als auch die Klägerin zu 2. erhoben jeweils Klage vor dem Sozialgericht Berlin. Das Sozialgericht Berlin hat die Klagen durch Beschluss zu einem Verfahren verbunden, wies die Klage in der Sache aber ab. Gegen diese Entscheidung hat die Klägerin zu 2. Berufung vor dem Landessozialgericht Berlin-Brandenburg eingelegt.

II.    Entscheidungsgründe

Das Landessozialgericht Berlin-Brandenburg wies die zulässige Berufung in der Sache ab. Das Landessozialgericht schloss sich den Feststellungen des Sozialgerichts Berlin an und hielt den Kläger zu 1. für abhängig bei der Klägerin zu 2. beschäftigt und damit für sozial­versicherungspflichtig.

  1. Eine abhängige Beschäftigung im Sinne der §§ 2 Abs. 2 S. 1 Nr. 1, 7 Abs. 1 SGB IV liegt vor, wenn der Arbeitnehmer vom Arbeitgeber persönlich abhängig ist. Dies ist dann der Fall, wenn der Arbeitnehmer einem umfassenden Weisungsrecht des Arbeitgebers unterliegt und in die Arbeitsorganisation des Weisungsgebers eingebunden ist.
  1. Dies war nach Auffassung des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg bei dem Kläger zu 1. der Fall.
  1. a) Wesentliche Freiräume des Klägers zu 1. seien angesichts des geschlossenen Vertragswerkes und der Vorgaben des Handbuches nicht ersichtlich. Dies betreffe insbesondere die Art und Weise der verbindlichen Auftragsvergabe durch die Zentrale der Klägerin zu 2. auf der Grundlage der zwingend vorgegebenen Funkordnung, der nicht verhandelbaren Fahrpreisnennung auf der Grundlage der ermittelten Transportkilometer unter Nutzung eines Entfernungsprogramms, der verpflichtenden Auftragsdurchführung und Abrechnung nach Vorlage vorgegebener Transportschecks bei monatlicher Bezahlung des Klägers sowie des vorfestgelegten Ausschlusses bestimmter Güter von der Transportversicherung.
  1. b) Erkennbare und eher für eine Selbständigkeit des Klägers sprechenden Anhaltspunkte, wie etwa die Nutzung eines eigenen Fahrzeugs bzw. seines „Familienautos“ und die vertraglich eröffnete, indes nicht praktizierte Möglichkeit, Hilfskräfte einzusetzen – bei vertraglicher Verpflichtung zur Zahlung des Mindestlohns – seien nicht so erheblich, dass sie für den sozial­versicherungsrechtlichen Status der Tätigkeit ausschlaggebend gewesen seien

III.    Zusammenfassung / Fazit

 

  1. Die Entscheidung des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg zeigt, dass der „Ein-Mann-Franchisenehmer“ sozialversicherungsrechtlich sogar noch weiter gehend als abhängig Beschäftigter eingestuft werden kann. Dies hat angesichts der nachzuentrichtenden Sozialversicherungs-beiträge erhebliche finanzielle Auswirkungen für den Franchisegeber, der nach § 28g SGB IV keinen Regress beim Franchisenehmer für den anteiligen Sozialversicherungsbeitrag nehmen kann.
  1. Um einer Scheinselbstständigkeit = Beschäftigung im sozialversicherungsrechtlichen Sinne nach § 7 Abs. 1 SGB IV zu entgehen, muss der Franchisenehmer vor allem
  • seinen Geschäftsbetrieb selbst organisieren,
  • seine Arbeitszeit grundsätzlich selbst festlegen,
  • keinem Weisungsrecht des Franchisegebers in örtlicher und sachlicher Hinsicht ausgesetzt sein.
  1. Problematisch sind in der Praxis regelmäßig die Fälle, bei denen der Franchisenehmer keine eigenen Arbeitnehmer beschäftigt und darüber hinaus unmittelbar eine Zuweisung oder Vermittlung seiner Kunden über den Franchisegeber erhält und der Franchisegeber dann im Außenverhältnis für den Franchisenehmer gegenüber den Kunden sogar Abrechnungen und / oder Vereinnahmung von Kundengeldern tätigt.

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